Über Katzen, Fische und neurodiverse Kinder
Angenommen, du stellst zwei Jaguare, drei Löwen, einen Tiger, eine Hauskatze, zwei Goldfische im Glas und einen Elefanten vor einen Baum und sagst ihnen folgendes: „Ich zeig' euch jetzt, wie man auf einen Baum klettert!“ - Dann kletterst du hinauf.
Als du unten ankommst, meinst du: „Ihr habt jetzt alle gesehen, wie man auf einen Baum klettert. Jetzt ihr!“
Die beiden Jaguare, die drei Löwen, die Hauskatze und der Tiger werden sofort nach oben klettern und keine Probleme dabei haben. Der Elefant und die Goldfische werden ein Stück über den Wurzeln am Boden stehen bleiben und verdattert dreinschauen. Sie werden es mit der vorgezeigten Methode nicht auf den Baum schaffen.
Baust du ihnen allerdings einen Lift, welcher durch einen Zahlencode, welchen man nach dem Lösen eines Rätsels, welches sowohl für Goldfisch- als auch Elefantenhirne kein Problem ist, aktiviert wird und ihnen das Rätsel vorlegst und dessen Lösungsmethode zeigst, werden sie es vermutlich auch auf den Baum schaffen. Entweder brauchen sie gleich lang, da das Lösen des Rätsels seine Zeit benötigt, vielleicht sind sie ein wenig schneller, vielleicht brauchen sie aber auch eine oder fünf Minuten länger. Fakt ist, sowohl die (Raub-) Katzen, als auch die Fische und der Elefant haben es letztendlich auf den Baum geschafft und genießen ihre Aussicht über den Wald.
Jetzt legen wir die Situation auf eine Schulklasse aus. Es werden viele Raubkatzen darin sitzen, allerdings auch ein paar wenige Fische oder Elefanten.
Die Fische und Elefanten werden anders arbeiten als die Katzenartigen, da sie komplett anders funktionieren. Was für einige Lehrpersonen schwierig ist, da der eigene Horizont gerne einmal eine homogene Masse andenkt - Alle sind gleich wie ich, deswegen funktionieren sie alle so. Muss ja so sein, tue ich auch.
Aber ist die Schüler*innenschaft eine homogene Masse?
Denken wirklich alle Schüler*innen gleich, wenn doch der Tobias so gerne zusammengekeift wird, weil er zeichnet, wenn er eine Aufgabe fertig gelöst hat und es ebenso wenig akzeptiert wird, dass der Bub absolut unruhig wird und mit seinem Bein wackelt, wenn ihm die Zeichnung weggenommen wird?
Denken wirklich alle Schüler*innen gleich, wenn beim Singen im Musikunterricht Sheila angegangen wird, wenn sie nach der Stunde dem Lehrer beichtet, dass es schrecklich für sie war, weil einige Kinder doch so schief gesungen hätten und ihr Kopf dadurch zu dröhnen begann?
Oder denken vielleicht einige Lehrpersonen gleich, dass solche Verhaltensweisen bloß schlechtes Benehmen wären und kein Coping- bzw. Maskingmechanismus oder grundsätzliche Ehrlichkeit in der Hoffnung, verstanden zu werden?
Auch wenn es manchmal mehr Aufwand ist, den Lift für den Fisch oder den Elefant zu bauen, sollten wir Lehrer*innen denn nicht eigentlich daran denken, dass wir individuell auf Kinder eingehen sollten?
Es ist absolut keine Schwäche, nicht zu wissen, wie man es angehen soll. Dafür gibt es ja auch schließlich Leute vom Fach, die hier gerne aushelfen. Zum Wohl der Kinder und für weniger Stress der Lehrperson.
Gleichbehandlung ist leider keine Chancengleichheit. Kein neurodiverses Kind meint es böse, anders zu funktionieren.
Aber Autismus, ADHS, LRS, Dyskalkulie o.ä. glattbügeln zu wollen, um neurotypisch funktionierende Kinder zu erzeugen bzw. das bezwecken zu wollen - Das ist böse. Auch wenn es gar nicht so gemeint ist.
Kinder waren früher neurotypisch sowie einige auch neurodivergent, sind es heute und werden es immer sein. Erwachsene ebenso. Und es ist durchaus angenehmer, das als Kind zu merken, als später. Es erspart viele Probleme.
Denkanstoß.